DIVINO - Das Magazin | N° 1/2019 Frühjahr - Sommer

pater anSeLmS KoLumne [divinosprache] Wein löst die Zunge. Liebende trauen sich beim gemeinsamen Weintrinken dem andern zu sagen, wie sehr sie ihn lieben. Beim Wein können wir das aussprechen, was unser Herz wirklich bewegt. Im Deutschen kennen wir ja drei Worte: sagen (dazu gehört auch das Erzählen) – reden – sprechen. Sagen kommt von zeigen: Ich zeige etwas, ich erzähle etwas. Jeder kann in aller Freiheit hinschauen, was er davon mitnehmen möchte. Reden heißt immer: berechnen, begründen, Rede und Antwort stehen. Aber wenn wir nur reden, gibt es ein Gerede. Ein Gespräch entsteht nur, wenn wir sprechen. Sprechen kommt von „bersten“. Es meint immer ein persönliches Sprechen, ein Sprechen aus dem Herzen heraus. Wenn wir miteinander Wein trinken, dann ist es schön, wenn die Leute sich interessante Geschichten erzählen. Das Reden und Diskutieren, das Bereden oder Überreden passt nicht zum Weintrinken. Schon der Weisheitslehrer Jesus Sirach aus dem Alten Testament weiß um die Gefahr des Redens und Beredens: „Beim Weingelage nörgle nicht am Nachbarn herum, verspotte ihn nicht, wenn er heiter ist. Sag zu ihm kein schmähendes Wort, und streite mit ihm nicht vor den Leuten!“ (Sir 31,31). Wenn wir beim Weintrinken nicht auf unsere Sprache achten, dann können leicht Streitereien entstehen, die den Sinn des Weintrinkens verfälschen. Dann wird zwar die Zunge auch gelöst sein, aber sie wird all die verdrängten Aggressionen und Vorurteile heraus posaunen. Zum gemeinsamen Weintrinken passt nur ein Gespräch. Friedrich Hölderlin meint, dass wir nicht nur ein Gespräch führen, sondern ein Gespräch werden. Da entsteht auf einmal Gemeinsamkeit, ein Miteinander. Wir bereichern uns einander. Weil jeder aus seinem Herzen heraus spricht, öffnen wir uns füreinander. Aber genauso wie wir auf unsere Sprache achten, sollten wir auch auf unser Herz achten, damit keine übelwollenden Gedanken unser Herz verlassen, sondern liebende Gedanken, die dem Gesprächspartner gut tun. Der Wein möchte uns einladen, dem Anderen Worte der Zuwendung und des Lobes zu sagen, die wir uns im Alltag oft nicht zu sagen trauen. pater Dr. anSeLm grün, abtei münSterSchWarzach anselm grün oSb (geb. am 14. Januar 1945 im fränkischen Junkershausen als Wilhelm grün) ist deutscher benediktinerpater, autor spiritueller bücher, referent zu spirituellen themen, geistlicher berater und Kursleiter für meditation, Kontemplation und geistliches Leben. mit rund 300 lieferbaren titeln, die bisher in einer gesamtauflage von über 14 millionen weltweit verkauft wurden, ist pater anselm grün einer der meistgelesenen deutschen autoren der gegenwart. Seine bücher wurden in dreißig Sprachen übersetzt. www.anselm-gruen.de 44 45 Nº 1 / 2019

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