DIVINO - Das Magazin | N° 1/2020 Frühjahr - Sommer
[divino-genügsam] Genügsamkeit ist heute keine Tugend, die uns anzieht. Und trotzdem spüren wir, wie gut uns die Genügsamkeit tut, wenn wir das Gegenteil erfahren. Wenn wir ein schönes Fest feiern, dann gehen die Gäste dann, wann es am schönsten ist. Sie gehen dankbar, und alle sind froh, ein schönes Fest gefeiert zu haben. Aber es gibt auch Gäste, die nie genug haben. Sie bleiben sitzen. Die Gastgeber werden schon nervös. Sie möchten am liebsten ins Bett gehen. Aber man möchte die Gäste ja auch nicht hinaus- komplimentieren. So hält man die Gäste mit freundlicher Miene aus, obwohl sich hinter der freundlichen Miene schon die Aggression anstaut. Da spürt man, wie gut es ist, wenn ich sagen kann: Es ist genug. Es war ein schöner Abend. Aber es genügt jetzt. Das gilt natürlich auch für das Weintrinken. Auch da brauche ich mein Maß. Dann werde ich den Wein genießen. Aber ich kann es auch genug sein lassen. Es gibt Menschen, die immer noch mehr haben möchten. Sie sind nicht zufrieden mit dem Geld, das ihnen zur Verfügung steht. Sie sind gierig und möchten immer noch mehr haben. Doch wer gierig immer mehr haben will, der kann das, was er hat, nie genießen. Nur wenn ich mir sage: „Es genügt“, kann ich das, was ich habe, was ich gerade erlebe, genießen. Genügsamkeit bedeutet für mich aber noch etwas anderes. Ich kenne viele Menschen, die als Kind das Gefühl hatten, dass sie den Erwartungen der Eltern nicht genügen. Das zieht sich dann durch ihr Leben. Wenn sie selbst Eltern werden, haben sie den Eindruck: Ich bin nicht gut genug als Mutter, ich genüge nicht als Vater. Ich genüge nicht in meinem Beruf. Wir tragen gleich- sam ein nicht genügendes Kind in uns, das sich immer wieder zu Wort meldet, wenn wir unseren eigenen Erwartungen nicht entsprechen. Es hilft uns nicht weiter, wenn wir dieses nicht genügende Kind in uns beschimpfen. Vielmehr sollten wir es als väterliche oder mütterliche Menschen umarmen und ihm sagen: „Für mich bist du gut genug. Es genügt mir, wie du bist. Du darfst so sein.“ Dann dürfen wir darauf vertrauen, dass unser nicht genügendes Kind in uns langsam leiser wird und wir inneren Frieden in uns spüren und uns sagen: „Es ist gut so, wie es ist. Es genügt mir.“ Pater Dr. anseLm Grün, aBtei münstersCHWarZaCH anselm Grün OsB (geb. am 14. Januar 1945 im fränkischen Junkershausen als Wilhelm Grün) ist deutscher Benediktinerpater, autor spiritueller Bücher, referent zu spirituellen themen, geistlicher Berater und kursleiter für meditation, kontemplation und geistliches Leben. mit rund 300 lieferbaren titeln, die bisher in einer Gesamtauflage von über 14 millionen weltweit verkauft wurden, ist Pater anselm Grün einer der meistgelesenen deutschen autoren der Gegenwart. seine Bücher wurden in dreißig sprachen übersetzt. www.anselm-gruen.de Nº 1 / 2020 Pater anseLms kOLumne
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