DIVINO - Das Magazin | N° 1/2024 Sommer

Die schmerzhafte Begegnung mit Brennnesseln (Urtica) gehört wohl zu den einprägsamsten Erlebnissen, und meistens machen wir ihre Bekanntschaft schon in der Kindheit. Ihre Wehrhaftigkeit sorgt leider dafür, dass Brennnesseln als unbeliebtes Unkraut abgestempelt werden. Und so wird mit Hacke und Spaten gegen die Pflanzen ins Feld gezogen. Doch Brennnesseln haben viel mehr als Quaddeln und Juckreiz zu bieten. WIE TAUSENDE KLEINER SPRITZEN… funktioniert die namensgebende Verteidigung der Brennnesseln gegen hungrige Pflanzenfresser. Auf den Blättern und Stängeln sitzen einzellige spitze Brennhaare. Durch in die Zellwand eingelagerte Kieselsäure ist der dünne obere Teil hart wie Glas und ebenso zerbrechlich. Das untere Ende ist verdickt und dient als Reservoir für die säurehaltige Flüssigkeit. Bei kleinster Berührung bricht das obere Ende an einer Sollbruchstelle ab und hinterlässt eine scharfe, schräge Kante – der Verteidigungsmechanismus ist aktiviert. Bei weiterem Kontakt stechen die Härchen in das Gewebe ein, und die Brennflüssigkeit wird mit Druck in die Wunde gespritzt. DA SPIEGELT SICH WAS Betrachtet man einzelne Brennnesseln genauer, ist man von der Effizienz der Brennhaare nicht mehr so ganz überzeugt. Fast jede Pflanze ist „angefressen“. Doch die Fraßspuren folgen einem auffälligen Muster: Hauptsächlich entlang der Blattnerven und den Blatträndern werden die Pflanzen weggefuttert. Ein kluger Weg, die Abwehrstrategie auszuhebeln, denn an diesen Stellen befinden sich keine Brennhaare. Verursacher der Fraßmosaike sind meist Schmetterlingsraupen, die oft in engen Clustern – auch Raupenspiegel genannt – die Brennnesseln abweiden. Für viele unserer Edelfalter sind Brennnesseln die wichtigste Futterpflanze der Raupen. Admiral, Tagpfauenauge, Landkärtchen, C-Falter und Kleiner Fuchs würden ohne die Brennnessel-Nahrung nicht durch unsere Gärten und Wiesen flattern. Doch nicht nur viele Schmetterlingsarten sind eng an Brennnesseln gebunden. Wanzen und Zikaden saugen gerne am Brennnesselsaft. Für den Weinbau ist dabei besonders eine Zikadenart wichtig. IN DER NOT…SAUGT DIE ZIKADE AN REBEN Die Zikadenart mit dem klangvollen Namen Win- denglasflügelzikade saugt gerne den Pflanzensaft von Ackerwinde und Brennnessel. Werden die beiden „Unkräuter“ zur Zeit des Zikadenflugs im Zuge der Beikrautregulierung aus den Weinbergen entfernt, nehmen die Zikaden notgedrungen das, was im Weinberg noch da ist – die Rebpflanzen. Wenn also die Brennesseln nicht aufzufinden sind, sticht die Zikade Reben an. Dabei werden die Phytoplasmen – die Auslöser der Schwarzholzkrankheit übertragen. Die Schwarzholzkrankheit führt zum Kümmern und Absterben kranker Reben und wirkt sich zudem negativ auf den Weingeschmack aus. Die gute Nachricht: Reben sind für die Windenglasflügelzikade nicht sehr attraktiv. Sind genügend Brennnesseln oder Ackerwinden in der Umgebung vorhanden, bleiben die Zikaden den Weinreben fern. Daher sollten die Bestände an Brennnesseln und Ackerwinden in und um die Weinberge zur Flugzeit der Zikaden stehenbleiben. Somit kann man nicht nur die Weinreben vor der Schwarzholzkrankheit schützen, sondern auch die Kinderstuben vieler Tagfalter. Hat man Brennnesseln im Weinberg stehen, ist das ein sehr gutes Zeichen für die Bodenqualität. Als sogenannte Zeigerpflanzen zeigen sie eine gute Stickstoffversorgung der Böden an und weisen auf Humusreichtum und gute Feuchteverhältnisse hin. An diesen Standorten kann der Einsatz von Dünger gespart werden. Dr. Beate Wende · Bayerische Landesanstalt für Weinbau und Gartenbau (LWG) · An der Steige · 97209 Veitshöchheim Telefon +49 (931) 9801-574 · beate.wende@lwg.bayern.de Dagegen ist ein Kraut gewachsen! Bei den Heilkundigen im Mittelalter war die Brennnessel fester und unverzichtbarer Bestandteil des Heilpflanzenrepertoires. Nachgewiesen ist, dass Inhaltsstoffe der Brennnessel antientzündlich wirken und daher auch bei Erkältungskrankheiten angewendet werden. Und bei standhaften Problemen können Männer Brennnesselsamen einnehmen (einfach als Zutat dem Salatdressing beigeben oder über das Frühstücksmüsli streuen). Auch in der Naturküche sind Brennnesseln eine wertvolle Zutat. Keine Angst vor den Brennhaaren – diese verlieren durch Kochen oder Anwelken der Pflanze ihre Wehrhaftigkeit. Ob als Salat, Suppe, Sirup oder als Zutat für Brotaufstriche oder Backrezepte, Brennnesseln können vielfältig eingesetzt werden. Einfach mal ausprobieren… und genießen. DIE BRENNNESSEL: wehrhaftes Superfood und ökologisches Multitalent An dieser Stelle berichtet Dr. Beate Wende, Biologin an der Landesanstalt für Wein- und Gartenbau in Veitshöchheim, von besonderen Tieren und Pflanzen im Weinberg. In dieser Ausgabe widmet sich die Wissenschaftlerin einem äußerst wehrhaften Untermieter im Weinberg. 16 Nº 1/2024·DIVINO MAGAZIN LEBENSRAUM WEINBERG

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