DIVINO - Das Magazin | N° 1/2024 Sommer

[divino-muße] In unserer westlichen Welt werden Arbeit und Arbeitsleistung so wichtig genommen, dass wir uns schwertun, das Lob der Römer und Griechen auf die Muße zu verstehen. Doch die Muße war für die Griechen ein Kennzeichen des freien Menschen, der nicht unter der Sklaverei der Arbeit steht, sondern der sich Zeit lässt, die Wahrheit der Welt zu erkennen, der die Dinge sein lässt. Aus dieser inneren Muße heraus fließt dann durchaus fruchtbare Arbeit. Aber diese Arbeit hat nicht den Geschmack des Mühseligen und Schweren, des Angestrengten und Angespannten. Heute versucht der arbeitende Mensch den Eindruck zu vermitteln, dass er viel zu tun habe und dass es großer Mühe bedarf, jeden Tag den Berg an Arbeit zu leisten. Wenn wir am Abend allein oder in einem Kreis von lieben Menschen miteinander Wein trinken, gönnen wir uns die Muße. In der Muße lassen wir das Geheimnis der Dinge stehen. Wir bestaunen die Schönheit der Welt und den wunderbaren Geschmack des Weines. Wir verdanken der griechischen Philosophie, die das Lob der Muße gesungen hat, wichtige Einsichten in das Geheimnis des Menschen. Die griechischen Philosophen haben die Menschen, das Leben, die Welt angeschaut. Weil sie frei waren, ein Ergebnis erzielen zu müssen, sind sie gerade so den Dingen auf den Grund gegangen, haben tiefe Einsichten in das Geheimnis des Menschen und in das Geheimnis Gottes erlangt. Die Muße ist der Ort der „theoria“, der Kontemplation, der Schau des Wesens der Dinge. Nicht vielerlei will ich wissen, sondern das Wesen des Seins erkennen. Darum geht es auch, wenn wir in aller Ruhe miteinander Wein trinken. Wir tauschen uns nicht über die Neuigkeiten dieser Welt aus, sondern um das, was uns als Menschen wesentlich ist. Und das verbindet uns auf einer tieferen Ebene. In der Muße – so glaubten die Griechen und Römer – greifen wir nicht ein in das Geschehen der Welt. Wir lassen uns selbst los und überlassen uns Gott. Wir überlassen uns dem Augenblick. Wir überlassen uns dem Schauen und Horchen, um so in die Tiefen des Seins einzudringen. Wenn wir unser angestrengtes Wollen einmal loslassen, geht uns das Geheimnis der Welt und des Daseins auf. Da sind wir offen für das Wesentliche. Der Wein ist ein guter Weg, zum Wesentlichen vorzustoßen. Das sagt schon die alte Weisheit: In vino veritas – Im Wein liegt die Wahrheit, aber nur, wenn wir ihn in aller Ruhe genießen und dabei den Dingen auf den Grund gehen. PATER DR. ANSELM GRÜN ABTEI MÜNSTERSCHWARZACH Anselm Grün OSB (geb. am 14. Januar 1945 im fränkischen Junkershausen als Wilhelm Grün) ist deutscher Benediktinerpater, Autor spiritueller Bücher, Referent zu spirituellen Themen, geistlicher Berater und Kursleiter für Meditation, Kontemplation und geistliches Leben. Mit rund 300 lieferbaren Titeln, die bisher in einer Gesamtauflage von über 14 Millionen Exemplaren weltweit verkauft wurden, ist Pater Anselm Grün einer der meistgelesenen deutschen Autoren der Gegenwart. Seine Bücher wurden in dreißig Sprachen übersetzt. www.anselm-gruen.de DIVINO MAGAZIN·Nº 1/2024 23 PATER ANSELMS KOLUMNE

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